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Fritz Fey Chefredakteur Studio Magazin editorial Stillstand? ‚Sehr geehrte Damen und Herren, wir können Ihnen die er-freuliche Nachricht übermitteln, dass die professionelle Au-diotechnik zu Ende entwickelt ist. Wir wünschen Ihnen wei-terhin viel Spaß und Erfolg mit Ihrer Audio-Hard- und Soft-ware und werden uns zukünftig anderen Aufgaben widmen.‘ Einen solchen Brief der Audioindustrie müssten wir Anwen-der doch eigentlich schon längst alle in unseren Postkästen gefunden haben. Oder anders gesagt, es wurde schon al-les entwickelt, nur noch nicht von allen. Und das scheint es auch hauptsächlich zu sein, was uns in schneller Abfolge im-mer ‚neue‘ Produktideen beschert, die in den meisten Fäl-len lediglich ein Zitat einer schon vorhandenen Entwicklung sind, die durchaus auch Jahre zurückliegen kann. Was wir momentan erleben, kann man als Übertragung der analo-gen Technik auf die digitale Ebene verstehen. Nahezu sämt-liche bedeutsamen Technologien der analogen, aber auch der frühen digitalen Hardware-Welt existieren mittlerwei-le als Plug-In in unserer Workstation-Umgebung. Das ist un-geheuer praktisch, denn alle Werkzeuge, die wir im Studio einsetzen, werden damit speicher- und automatisierbar und können in beliebiger Reihenfolge, Position und Verschaltung mit ein paar Mausklicks in den Signalweg eingefügt werden. Ein anderes Argument scheint aber noch viel wichtiger: Für eine Handvoll Euro bekommen wir nicht nur ein Gerät, son-dern so viele Instanzen (‚Geräte‘), wie unsere CPU-Ausstat-tung ausrechnen kann. Man muss jetzt nur noch glauben, dass es keinerlei Unterschiede zwischen analogem oder di-gitalem Hardware-Original und der entsprechenden Emu-lation gibt, dann ist die Studiowelt in allerbester Ordnung – minimaler Investitionsaufwand für eine maximale Funk-tionsausstattung. Nun ja, auf ein paar analoge Geräte wer-den wir wohl auch in Zukunft nicht verzichten können, wenn es darum geht, das Gros von Mikrofonsignalen zu verstärken und anschließend zu digitalisieren, oder das Produzierte zu analogem Gehör zu bringen. Die Markteinführung so ge-nannter ‚digitaler‘ Mikrofone ist als beachtenswerte Einzel-leistung eines deutschen Unternehmens ins Stocken gera-ten und konnte sich bisher nicht auf breiter Front durchset-zen. Dennoch wäre es vorstellbar, dass die Digitalisierung im Mikrofon selbst stattfindet und analoge Verstärkung da-mit überflüssig würde. Der einzige Hinderungsgrund für eine vollständige Digitalisierung sind unsere Ohren, die wir bis-lang nicht durch einen operativen Eingriff umgehen können. Nachdem das Ende der Tonträgerära bereits eingeläutet ist, bewegen wir uns von der Produktion bis zum Konsum in ei-ner vollständig virtuellen Welt. Damit wir uns nicht ganz so entmenschlicht fühlen, zeigt man uns fotorealistische Abbil-dungen von Geräten auf dem Bildschirm, die man ehemals real anfassen konnte und auch die ‚Platte‘ erscheint nur noch als Bildchen, während wir sie hören. Das ist durchaus ressourcenschonend und preisgünstig bis kostenlos. Was auf anderen Ebenen in virtuellen Welten gespielt wird, kön-nen wir jetzt auch: Wir spielen ‚Tonstudio‘ ohne nennens-werten Hardwareaufwand, wobei der Rechner, der uns unse-re Scheinrealität präsentiert, noch zu den größten Investiti-onen gehört. Aber mit so einem Rechner kann man ja auch noch viele andere (virtuelle) Dinge tun, die uns komfortabel die Realität ersetzen. An dieser Stelle müsste jetzt eigent-lich ein flammendes Plädoyer für die analoge Technik fol-gen, die magisch und einzigartig ist und niemals durch ein mathematisches Modell ersetzt werden kann. Aber so ein bisschen fehlt mir die Motivation, mich darauf einzulassen. Wenn alles so unwahrscheinlich bequem, speicher- und au-tomatisierbar ist, so flexibel, wandelbar, preisgünstig, rück-standsfrei entsorgbar, schnell und einfach – was zählen da ein paar nicht einmal bewiesene Argumente für ‚gewisse Un-zulänglichkeiten‘ und ‚rechnerische Vereinfachungen‘, mit denen wir uns in der digitalen Welt auseinanderzusetzen ha-ben? Ich glaube, ich gehe gleich mal runter in mein esote-risch verseuchtes Studio und schaue mir meine analogen Geräte ein letztes Mal an, bevor ich sie gedanklich in die di-gitale Welt der unbegrenzten Möglichkeiten übertrage…


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